Grundlegende Merkmale des Alevitentums
[Dr. Ahmet Terkivatan] Das Alevitentum ist als Glaube ein philosophischer Glaube, weil das individuelle Dasein, die bloße individuelle Existenz als eine Art Gefängnis empfunden und die Gesamtheit des Seienden als ein Einheitliches und Sinnvolles erlebt und erklärt wird (Einstein).
Das Alevitentum (A) ist ein friedlicher, toleranter und weltoffener Glaube,
das diesseitig orientiert ist und keine Eschatologie kennt. Das A ist
trotz der mannigfaltigen Quellen, Einflüsse und Facetten (Synkretismus) ein eigenständiger Glaube
mit eigenen Werten, Prinzipien, Ritualen, einem eigenen Welt- und Menschenbild, einer eigenen Gottesvorstellung und Glaubensauffassung u. dgl. Das A ist
eher mit einerNaturreligion zu
vergleichen als
mit einer offenbarten Schriftreligion.
Das A ist
in die Praxis
menschlicher Handlungserfahrung eingebettet und wurde stets mündlich tradiert,
weshalb wir wenig schriftliche Texte, Quellen, Zeugnisse u. dgl. haben. Die mündliche Form der Überlieferung (durch die soziale Gemeinschaft, Pir, Dede, Aschiq)
setzt umso mehr den praktischen Vollzug dieses Glaubens im täglichen Leben voraus und erschwert die nachträgliche Erforschung des Alevitentums. Dennoch lässt sich das A sehr
gut anhand folgender Merkmale charakterisieren:
Das A ist erstens keine
„Furchtreligion“, sondern, um mit Einstein zu sprechen, eher eine „kosmische Religiosität“, die die Gesamtheit des Seienden als ein Einheitliches und Sinnvolles erleben“ will (Albert Einstein, Mein
Weltbild, Zürich 2005, S. 19). Das A ist
eine kosmische Liebesreligion, die auf Freiwilligkeit basiert und nicht mit Zwang oder Druck arbeitet. Das A kennt
keine Dogmatik (dogmatische
Lehre, Gebetsrituale, Textexegese u. dgl.) und erhebt keinen universellen (apodiktischen) Anspruch.
Insofern ist das A zweitens weder
eine theistische noch
eine deistische Form
der Religion bzw. des Glaubens, sondern eine pantheistische.
Dem Alevitentum wohnt ein pantheistischer Gott inne. Es wird davon ausgegangen, dass alles göttlich ist. Der Pantheismus geht davon aus, dass Gott in allen Dingen lebt, sogar das Leben des Kosmos
selbst ist, so dass schließlich Gott und die lebendige Natur zusammenfallen: Das All ist die Gottheit selbst. Gott ist die „Energie“, der Name für das Ganze, für die Einheit zwischen Menschen, Natur
und Kosmos. Ein solcher Pantheismus führt letztlich dazu, dass die ganze Schöpfungslehre, die Eschatologie und überhaupt eine teleologische Vorstellung der Welt nichtig werden: Wenn es keinen
Schöpfer und kein Geschöpf gibt, wenn also „Gottheit“ der Name oder das Zeichen für das All, für den Kosmos im ganzen ist, dann wissen wir nichts über den Anfang und das Ende des Kosmos.
Das teleologische Modell wird zugunsten des Modells der Spirale, des Kreises ersetzt. Das
Leben oder der Kosmos erwächst aus dem Tod.In diesem Sinne sagen Aleviten ana´l-haqq (Enel-Hakk),
um ihr Selbstverständnis zum Ausdruck zu bringen und ihre Identität zu charakterisieren. Der Ausdruck haqq in
der Bedeutung von „Gott“, „Gottheit“, „Wahrheit“ oder „göttliche Wahrheit“ ist entsprechend der alevitischen Lehre wahdat
al-mewdschud der allgemeine Name für das All,
für den Kosmos im Ganzen. Die für die alevitische Mystik konstitutive Lehre wahdat
al-mewdschud bedeutet wesentlich die Auflösung des onto-theologischen Dualismus zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Gott, Natur und Kosmos zugunsten eines Monismus in Form einer
„Allgottheitslehre“, die wir bereits bei Xenophanes und Parmenides und später bei Spinoza finden. Der Kosmos und in
concreto das Leben haben entsprechend dieses Selbstverständnisses keinenAnfang und
kein Ende,
so dass letztlich die Vorstellung eines allmächtigen, absolut transzendenten „Gottes“ als Schöpfer und Erlöser sowie die Eschatologie hinfällig
werden. Der Mensch selbst ist der „Erlöser“.
Insofern muss er Verantwortung für
sich, für den anderen und überhaupt für das Ganze übernehmen.
Das scheint aber nur im Diesseits möglich
zu sein, weshalb der Vorstellung eines Jenseits sowie
einer damit verbundenen Eschatologie der
Legitimationsboden entzogen wird. Entsprechend dieser „Allgottheitlehre“ wird in konsequenter Weise auch und gerade der „Tod“ in den ewigen Kreislauf mit einbezogen: Gemäß der „Thanatologie“ der
alevitischen Lehre stirbt zwar der Mensch, aber nur als bloße körperliche (vegetative)
Existenz (kuru ten). Die „Seele“ (nefes) des Menschen stirbt nicht, sondern nimmt eine andere Gestalt, einen anderen Körper, eine andere körperliche Existenz an (Seelenwanderung). Entsprechend dieser
pantheistischen „Thanatologie“ sprechen wir vom eigentlichen „Tod“ nur und nur dann, wenn eben die „Seele“ des Menschen stirbt („Nefes ölürse kan olur“). Dieses pantheistische
„Gottesverständnis“ schlägt sich auf die Struktur der rituellen „Versammlungen“ (Ayn-i Cem) nieder: Hier sitzen nämlich die Gemeinschaftsmitglieder in Kreisform, von Angesicht zu Angesicht. Das
Gesicht des Menschen wird als Gottes Gesicht gesehen. Dabei spielt das Geschlecht, die Rasse, die ethnische Zugehörigkeit keine Rolle. Alle sind gleichrangig und gleichberechtigt.
Dem A liegt
deshalb in methodologischer Hinsicht drittens eine pantheistische
Hermeneutik des inneren Sinnes (batin-i) zugrunde. So spricht Seyyid
Imaneddin Nesimi (1370-1417/18): „Erkenne dich selbst, um Gott zu erkennen.“ Oder: „Wie kann ich sagen, dass die ´göttliche Wahrheit´ (Gott) unabhängig von dir existiert, da ich das
Geheimnis der „göttlichen Wahrheit“ in dir sah.“ (Nesimi Qazeller, http:ekitap.kulturturizm.gov.tr./Tempdosyalar/109862-immadedinnesimi, XXXV). Weil
alles göttlich ist, kann „Gott“ in der gesamten Natur und im eigenen Selbst aufgespürt werden. Aschiq
(Asik, Liebende) Daimi schreibt:
Ich bin der Spiegel des Universums,
Wenn ich doch ein Mensch bin.
Ich bin der Ozean der Wahrheit (Wirklichkeit),
Wenn ich doch ein Mensch bin.
Gemeinsam ist deshalb allen pantheistischen Strömungen eine Wendung nach innen, also eine reflexive Rückbesinnung auf sich Selbst. Der Mensch sucht das innere Heil in sich selbst. Ohne eine solche
Hermeneutik lassen sich diverse aus dem Islam entlehnter Symbole, Personen, Ereignisse u. dgl. nicht verstehen. So ist bspw. Ali entsprechend dieser Hermeneutik ein rationaler Mensch, der sich für
Arme, Entrechtete einsetzt. Er ist Symbol für Freiheit, Aufklärung, Weisheit, Stärke, Mut, soziale Gerechtigkeit. Er ist nur ein Erlöser (Mehdi) neben anderen. Ein solcher im Rahmen einer
pantheistischen Hermeneutik des inneren Sinnes vorzufindender Ali gibt es aber im Rahmen einer Hermeneutik des äußeren Sinnes nicht. Demnach ist Ali der historische Ali, der nach dem Tod Fatima´s
sieben Mal geheiratet hat, der Aristokrat ist und sich auf Machtkämpfe einlässt. Ali ist in diesem Zusammenhang der Erlöser in dem Sinne, dass er die „Abtrünnigen“ zur Besinnung bringt und zum Islam
zurückbringt.
Das A ist viertens als
Glaube ein philosophischer
Glaube, weil das individuelle Dasein, die bloße individuelle Existenz als eine Art Gefängnis empfunden und die Gesamtheit des Seienden als ein Einheitliches und Sinnvolles erlebt und erklärt
wird (Einstein). Deshalb wird ein vermeintlicher Antagonismus zwischen Religion und Wissenschaft, Rationalität und Empfindung überwunden. Das Selbstdenken,
Bildung, Forschen, Wahrheit u. a. sind grundlegende Postulate des Alevitentums. So sagt der Pir (geistige
Führer) Haci
Bektas Veli (13 Jh.): „Unklar
ist das Ende des Wegs, wenn die Wissenschaft nicht berücksichtigt wird.“ „Die Forschung ist eine unendliche Prüfung.“ „Unser Weg gründet auf Wissenschaft, Bildung und der Liebe zur Menschheit.“ „Die
Wahrheit ist das Tor zur Freundschaft.“
Es geht dem A als philosophischen Glauben
wesentlich um die Explikation des verborgenen, inneren Sinnes des Mysteriums
im Menschen. Ein solcher Ansatz ist dem Alevitentum und der Gemeinschaft der Aleviten eigen und darf nicht mit der islamischen
Doxographie verwechselt werden, in der mit dem Begriff batiniya auf
ismailitische Gruppen und heterodoxe schiitische Gruppen verwiesen wird.
Das A ist fünftens als Philosophie eine Philosophie
der Liebe und des
Herzens (Gönül felsefesi) sowie eine Philosophie
der Befreiung undFreiheit (Özgürlük
ve özgürleşme felsefesi). So ist Selbstbefreiung u. a. durch Wissensaneignung möglich. Dieses Merkmal lässt sich wie folgt zusammenfassen: Unsere Religion ist die Liebe und unser heiliges Buch der
Mensch. So schreibt Aschiq Hüdai:
Des Menschen Leben ist unser Leben,
Des Menschen Körper ist unser Körper,
Die Liebe ist unsere Religion,
An keine andere Religion glauben wir.
Somit enthält das A sechstens
eine grundlegende Konsequenz aus diesen Merkmalen, und zwar eine tiefsinnige
humanistische Gesinnungund eine humanistische
Werteorientierung. Die „göttlichen“ Attribute werden auf den Menschen übertragen. Der Mensch und die Menschheit sind hier die Subjekte und Substrate der Geschichte, wie Haci
Bektas Veli (13. Jh.) schreibt:
Kaaba des Herzens
Andere haben die Kaaba,
Meine Kaaba ist der Mensch,
Sowohl der Koranals auch der Erlöser,
Ist der Mensch, die Menschheit selbst.
Das A ist
insofern ein humanistischer, auf Aufklärung durch Bildung und Erziehung, Rationalität und Wissenschaft bedachter Glaube. Gleichstellung der Geschlechter, Nächstenliebe, Naturverbundenheit, Toleranz,
Weltoffenheit, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft sowie insgesamt die Menschenrechte sind Kernelemente des alevitischen Glaubens, die wir in den alevitischen Gedichten, tiefsinnigen Gesängen
(Nefes), in der alevitischen Mythologie sowie im Gebot (Buyruk)
immer wieder finden.